Rede des Ehrenvorsitzenden Dr. Eberhard Schallhorn zur Feier des 100. Gründungstages des Verbandes Deutscher Schulgeographen im September 2012 in Gotha.
*.pdf-Fassung HIER
Anmerkung vorab: Die eine oder andere kritische Stimme zu diesem Vortrag gibt mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Vortrag eines Schulgeographen auf einer Festveranstaltung der Schulgeographie innerhalb des Verbandes deutscher Schulgeographen aus Anlass eines besonderen Jubiläums des Verbandes Deutscher Schulgeographen gehandelt hat. Dabei könnte der eine oder die andere aus dem Umfeld der Schulgeographen, der oder die den Verband oder die Schulgeographie insgesamt in der 100jährigen Geschichte möglicherweise nur suboptimal in Tat und Wort unterstützt haben, die eine oder andere Bemerkung als Kritik auffassen. Jede Kritik hier soll aber konstruktiv gemeint sein und zu Positivem führen. E.S.
100 Jahre Verband Deutscher Schulgeographen e.V. heute
„Die Geographie ist der Kern, um den herum die übrigen Wissenschaften gesponnen sind.“ [1] Ein Satz von Gilbert Grosvenor, dem Präsidenten der Geographical Society der USA aus dem Jahre 1999, wie für eine Veranstaltung gemacht, die die 100. Wiederkehr des Gründungstages des Verbandes Deutscher Schulgeographen festlich begeht. Da möchte man annehmen, dass Geographie in der Schule wie in der Wissenschaft eine zentrale Rolle einnimmt. Das aber ist – wie wir alle hier wissen – eher eine Hoffnung. Der Anspruch ist hoch, die Wirklichkeit ernüchternd.
„Mit einer geradezu erschreckenden Unwissenheit über die einfachsten geographischen Dinge verlassen die meisten Schüler unsere höheren Lehranstalten (…). Um hier gründlich Wandel zu schaffen, wiederholt der 17. Deutsche Geographentag auf das dringendste seine frühere Forderung (…) nach Fortführung des Geographieunterrichts durch sämtliche Klassen aller höheren Schulgattungen mit je zwei wöchentlichen Unterrichtsstunden.“[2]
Sie haben es gemerkt: Das war keine Äußerung aus unserer Zeit. Der 17. Deutsche Geographentag fand in Lübeck in der Zeit vom 1. bis 6. Juni 1909 statt. Der Verband Deutscher Schulgeographen war noch nicht gegründet. Wir sind inzwischen reichlich 103 Jahre weiter. Der Verband Deutscher Schulgeographen feiert seinen Geburtstag. Auf die 14 Jahre, in denen von 1935 bis 1949 Verbandsarbeit nicht möglich war, haben wir anlässlich unserer Feier zum 50. Jahrestag der Neugründung des Verbandes nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg 1999 hingewiesen. Auch Schulgeographen waren seinerzeit nicht gegen die nationale Verblendung gefeit.
Die Aussage über die Qualität geographischer Bildung unserer Schulabgänger fällt heute möglicherweise optimistischer aus als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zumindest was die Zeit unmittelbar nach dem Schulabschluss des Gymnasiums betrifft. Gleichwohl: Während meiner Fahrt mit Familie in einer Reisegruppe durch Südamerika vor zwei Jahren staunte eine Dame über die zunehmende Wärme der Tage Ende November in dieser Region – sie hatte nicht realisiert, dass wir aus dem heimatlichen Herbst in den südamerikanischen Frühling gefahren waren.
Die nur allzu berechtigte Forderung nach zwei Wochenstunden Geographieunterricht in allen Schularten und allen Klassenstufen stellt der Verband Deutscher Schulgeographen auch heute noch. Die Begründung ist anders als vor 103 Jahren. Sie zielt nicht mehr auf erforderliche Kenntnisse über potentielle oder schon tatsächliche Kolonien, sondern auf Raumbewusstsein, Raumverhaltenskompetenz, Verständnis der globalen Zusammenhänge und Erziehung zu nachhaltigem Verhalten. Das sind wahrlich Schwergewichte für das Wirklichkeitsverständnis jedes Bürgers. Die Einsicht der Bildungspolitik steht aus.
Das Schulfach Geographie musste in der Vergangenheit immer wieder als Steinbruch für mehr Unterrichtsstunden bestehender oder neu eingerichteter Fächer herhalten. Inzwischen kennt man die Auswirkungen bei den Erwachsenen, beispielsweise mangelhafte Orientierungsfähigkeit – die heutzutage durch allgegenwärtige nur scheinbar GPS-Navigation kompensiert wird -, geringe Kenntnisse über die eigene Region, das Urlaubsland und die Welt insgesamt, die oft – wenn überhaupt – nur erweitert werden durch die Lektüre von Reiseführern, deren inhaltliche, in Einzelheiten gehende Vielfalt aber das geographisch Eigentliche, die strukturelle Eigenheit eines Gebietes, kaum vermitteln können. Auch die Kenntnisse über den Heimatraum bleiben rudimentär. Das kann schon in frühen Schuljahren eingefädelt werden und beruht manchmal auch auf unzureichendem Lernmitteln: Auf der Karte von Baden-Württemberg im Schulbuch meines Sohnes für die 2. Klasse, dessen Zustand jahrelange Nutzung nicht verbergen kann, quert zum Beispiel der Neckar mitnichten die Südspitze des Odenwalds und erreicht nicht den Rhein in Mannheim – endet stattdessen in Heidelberg, wo er sich in das nördlich angrenzende Weiße zu ergießen scheint, das „Hessen“ zu nennen wahrscheinlich für baden-württembergische Grundschüler eine Zumutung darstellt und deswegen unbenannt bleibt.
Die Medien sind angefüllt mit Berichten aus aller Welt, aber den Menschen fehlt die Fähigkeit, sie maßstabsgerecht in ihr Weltbild einzuordnen. Allein in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ finden sich in der Ausgabe vom 30. August dieses Jahres mehr oder minder ausführliche Berichte aus oder über Teheran, Timbuktu, Brüssel, Somalia, Italien, China, aus den USA, der Türkei, aus Brasilien, Frankreich, Russland, Großbritannien, Norwegen, Island, Schottland, der Schweiz. Die Nachrichten des Radios und des Fernsehens sind voller geographischer Nennungen, lassen aber gleichwohl die Welt auf nur wenige Brennpunkte aktuellen Geschehens schrumpfen. Die Flugreise bringt den modernen Menschen in einen viele Flugstunden entfernten fremden Kulturkreis, den er – wo auch immer er ankommt – so betritt, wie er die Reise in Erwartung möglichst geringer Kosten bei möglichst angenehmem Aufenthalt angetreten hat, T-Shirt mit lustigem Aufdruck: „Klimawandel? Na und!“, kurze Hose, Spiegelreflex um den Hals – um nur den männlichen Zeitgenossen zu skizzieren.
Die Kenntnisse der Bevölkerung über die Komplexität des Klimas, den Klimawandel oder den Witterungsablauf sind marginal, die oberflächlichen Wetterberichte aber in den Medien allgegenwärtig und oft mit einem Touch Unterhaltung aufbereitet. Das tägliche Wetter bleibt vielen gleichwohl ein Rätsel, und das sommerliche Hitzegewitter oder das pünktlich sich einstellende Weihnachtstauwetter werden unverzüglich als deutliche Zeichen für den Klimawandel angesehen. Die Medien warten mit immer neuen Horrormeldungen auf, ohne dass es dem geographisch wenig Gebildeten möglich wäre, sich aus dem emotionalen Würgegriff seiner Unkenntnis zu befreien. „Unsere Erde hat Fieber“, tönt die BILD-Zeitung in zentimeterhohen Buchstaben am 4. November 2006 oder erscheint am 23. Februar 2007 mit dem Aufmacher „Geheimer Klimabericht: Wir haben nur noch 13 Jahre, um die Erde zu retten.“ Wir erinnern uns: Die Auflage der „Bild“-Zeitung beträgt täglich 2,7 Mio. Exemplare und sie hat täglich 11,5 Mio. Leserinnen und Leser, für die sie die Grundlage dafür ist, sich ihre Meinung zu „bild“en. Aber auch Printmedien mit anderen Ansprüchen mischen mit: Im „Rheinischen Merkur“ liest man am 31. März 2010 Werbung für eine neue DVD: „Der brandneue Enthüllungsfilm zur aktuellen Klimadebatte: Erfahren Sie jetzt die eiskalte Wahrheit: Der Klima-Schwindel. Wie die Öko-Mafia uns abzockt.“
Wie Kinder staunen wenig geographisch gebildete Erwachsene über grundlegende Naturphänomene genauso wie über Grundsätze der Stadtplanung vor der eigenen Haustür und damit ein wichtiges Teilgebiet der Kommunalpolitik, die ihnen ohne geographische Bildung weitgehend verschlossen bleiben. Geophysikalische Grundlagenkenntnisse werden zu gegebener Zeit gleichfalls von der BILD-Zeitung geliefert und vom einfältigen Leser als „verstanden“ abgehakt:
Bild.de – 10.09.2012 — 23:37 Uhr
„(…) Warum spucken Vulkane Asche und Lava? Die Erde ist wie ein riesiger Flickenteppich: Mehrere Krustenplatten schwimmen auf einem heißen Gesteinsbrei (Magma). Vulkane bilden sich besonders dort, wo die Platten aneinandergrenzen. Sie stoßen zusammen, reißen auseinander, dabei kann Magma (Lava) über Spalten an die Oberfläche treten.
P.S.: Sind Sie bei Facebook? Werden Sie Fan von BILD.de-News!“
Wenige Zeilen genügen anscheinend für die zufriedenstellende Erklärung – warum also dann darüber eine ganze Unterrichtseinheit im Schulfach Geographie?
Weil geographische Bildung nicht nur Information bedeutet, sondern Verständnis, Verortung, Verknüpfung, Verhalten einschließt. Und diese Geographische Bildung tut Not!
Die Geographie an der Schule hat seit jeher einen schweren Stand. Zu Zeiten der Gründung unseres Verbandes durch Hermann Haack wurde beklagt, dass das Fach in der Schule zu wenig ernst genommen wird. Äußeres Anzeichen dafür war beispielsweise neben der geringen Stundenanzahl auch der überwiegend fachfremd erteilte Geographieunterricht: Erhebungen im Jahre 1908 ergaben, dass „von den mit erdkundlichem Unterricht betrauten Lehrern“ etwa die Hälfte „keine Lehrbefähigung in diesem Fache besaßen“. [3]
Helmuth Köck hat beinahe 100 Jahr später in seiner noch heute aktuellen Erhebung „Zum Bild des Geographieunterrichts in der Öffentlichkeit“ aus dem Jahre 1997 [4] für die „alten“ Bundesländer festgestellt, dass das Schulfach Geographie bei Eltern und Schülern ein durchweg „überraschend positives“[5] Image aufweist: „Von irgendwelcher Geringschätzung oder Voreingenommenheit als typischer Tendenz kann (…) nicht die Rede sein. Damit aber kommt das Bild der Öffentlichkeit (…) als wesentliche Ursache für die beklagenswerte Situation der Geographie in der Schule kaum in Frage.“ Die Konsequenz aus dieser positiven Fremdeinschätzung solle – so Köck – bei den Schulgeographen „statt Selbstanklage und Selbstmitleid (…) Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen“ als „grundlegende Einstellungsdimensionen“ [6] sein.
Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen haben nun allerdings grundlegend zumindest die Geographielehrer, die Mitglied in unserem Verband sind – wobei selbstredend Ausnahmen immer nur die Regel bestätigen. Kontinuierliche Informationen aus dem Gesamtbereich der Geographie sowie Geographentage und Fortbildungsveranstaltungen auf lokaler oder regionaler Ebene unterstützen sie dabei.
Trotz der Vielzahl von aktionistisch erscheinenden organisatorischen, methodischen und inhaltlichen Reformen, die der Schule, den Lehrern und den Schülern seit PISA2000 von der Bildungspolitik übergestülpt wurden und sogar als „Jahrhundertvorhaben einer Revolution der bestehenden Schulverhältnisse“ charakterisiert werden [7], erfüllen sie – die Lehrer – unbeirrt ihre wichtige Bildungs- und Erziehungsaufgabe. Und zwar ungeachtet dessen, dass der, dem etwas übergestülpt wird, blind zu werden, zu stolpern und seine Orientierung zu verlieren droht.
Die Gesellschaft kann sich glücklich schätzen, dass viele der in hohen pädagogischen und didaktischen Kreisen heftig diskutierten, oft nur vermeintlichen Innovationen unserer Zeit die Lehrer kaum erreichen. Wenn alles befolgt würde, was eine bildungspolitisch hörige Pädagogik und Didaktik den Schulen heute zumutet, würde ein bildungspolitisches Chaos ausbrechen – wo schon von „pädagogischer Orientierungslosigkeit“ (Ladenthin) gesprochen wird. Die Fragwürdigkeit der neoliberal-utilitaristischen Ausrichtung der Bildungspläne nach Kompetenzen und Standards kann hier nicht diskutiert werden; ich verweise gerne auf die „Gesellschaft für Bildung und Wissenschaft“ an der Universität in Frankfurt am Main, die sich dieser Thematik in Fachtagungen und öffentlichen Äußerungen entgegen dem mächtigen Sog des pädagogisch-didaktischen Mainstreams und der Bildungspolitik angenommen hat. Ein Beispiel für die theoretische Abgehobenheit der Diskussion gibt zumindest dem an der Praxis orientierten Lehrer im Klassenraum – vielleicht auch im Geographieraum – allein schon die gängige Definition dessen, was „Kompetenzen“ sind, einem der Schlüsselwörter der heutigen Bildungspolitik: Kompetenzen sind (nach Franz E. Weinert) „(…) die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.”[8]
Der Psychologe Philip Tetlock untersuchte in einer aufwendigen Studie über 16 Jahre (1987-2003) die Treffsicherheit von Experten. Ein Ergebnis seiner dann im Jahre 2005 veröffentlichten „Tetlock-Studie“[9] ist, dass Experten einfache Dinge kompliziert machen müssen, damit es Bedarf für ihre Erklärungen gibt. Und dabei vernachlässigen sie das Offensichtliche. Das Offensichtliche ist in unserem Bereich die Persönlichkeit des Lehrers, der Tag für Tag mit um die 30 unfertigen Persönlichkeiten seiner Schülerinnen und Schüler umgehen, auskommen und ihnen beibringen muss, was sie in diesem Augenblick möglicherweise überhaupt nicht wissen oder können wollen. Er bedarf der Zeit, der Gelassenheit, der persönlichen Ausstrahlung, der lebendigen Rede und der vorzüglichen fachlichen Ausbildung sowie dem Impetus, sich jungen Menschen vertrauensvoll zuwenden zu können.
Im baden-württembergischen „Bildungsplan“ aus dem Jahre 2004 manifestieren sich die nach einer jeweils zweijährigen Unterrichtszeit erworbenen Kompetenzen in Standards, die abgefragt, heute sagt man: evaluiert werden können. Die Standards der Fachkompetenzen, die Schülerinnen und Schüler am Ende der 10. Klasse des allgemeinbildenden Gymnasiums erworben haben, sind im 4. Themenfeld apodiktisch so beschrieben:
„Die Schülerinnen und Schüler können
– den natürlichen Wandel des Klimas erklären;
– den Zusammenhang zwischen anthropogen bedingten Veränderungen der Zusammensetzung der Atmosphäre und globalen Klimaänderungen verstehen;
– Strategien und Maßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre in Politik und Gesellschaft beurteilen;
– Möglichkeiten der Technik zur energieeffizienten und sparsamen Nutzung von Energieträgern aufzeigen;
– Strategien zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung erörtern.“ (Bildungsplan 2004, S. 242)
Der Lehrer, das Schulbuch, das Internet und Wikipedia geben den 16-jährigen Schülerinnen und Schülern vor, was und wie zu erklären, zu verstehen, zu beurteilen, aufzuzeigen und zu erörtern ist. Die Schüler übernehmen, was sie vorfinden und was der Lehrer im Unterricht davon als merk-würdig festgestellt hat. Die selbständige Reflexion kann in den für den Geographieunterricht vorgesehenen wenigen Unterrichtsstunden nicht erfolgen. „Können“ heißt, das gelernt zu haben, was abgefragt werden wird. Abgefragt – „evaluiert“ – wird so, dass die Ergebnisse bestätigen, dass die Standards erreicht worden sind, beispielsweise mit Multiple-choice-Aufgaben oder Fragen, die aus gegebenen Texten oder Diagrammen zu beantworten sind und letztlich Lesekompetenz abfragen. Das ist „teaching to the test“ – nach der Evaluationsarbeit kann man die gerade abgefragten Fachkompetenzen mehr oder weniger schnell vergessen und sich den neuen zuwenden.
Die Ergebnisse der Schülerleistungen werden immer besser, die Klagen der Abnehmer unserer Schüler – der Wirtschaft und der Universitäten – über deren Fähigkeiten und Kenntnisse immer lauter. Entweder, die Kompetenzen und Standards werden angemessen formuliert, oder die Stundentafeln für das Fach Geographie müssen angepasst werden. So, wie es ist, ist es die Vorspiegelung falscher Gegebenheiten. An anderer Stelle habe ich vom „nackten Kaiser“ gesprochen, was sich aber in einer solchen Festveranstaltung des Anstands wegen verbietet.
Im Positionspapier des Deutschen Germanistenverbandes vom Juni 2012 wird angemerkt, dass die „mit dem individuellen (…) Bildungsgang befassten Institutionen – seien es Berufs(fach-)schulen, Betriebe oder die gymnasialen Oberstufen (…) – keineswegs automatisch voraussetzen“ können, dass „die Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I im vollen Maße über die Kompetenzen verfügen, wie sie in den Standards beschrieben werden.“ [10] Dem entspricht die Einsicht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahre 2007, man werde „(…) gerade beim Beginn der Entwicklung von Bildungsstandards in Deutschland damit rechnen müssen, dass Anforderungen (…) unrealistisch hoch angesetzt werden. Sicherlich sollen Bildungsstandards eine Herausforderung für Lehrende und Lernende darstellen, aber unrealistisch hohe Erwartungen führen zu Demotivation und gefährden die Akzeptanz der Standards. Man wird daher die Höhe der Kompetenzanforderungen erst nach empirischen Befunden definitiv festlegen können.“[11] Der Lehrer in der Schule fragt sich aber dann kopfschüttelnd und wohl zu Recht: „Was soll das Ganze?“ Leidtragend ist bei derart verdrehter Vorgehensweise – erst die Vorschrift für die Praxis, dann die Überprüfung der Möglichkeiten, anstatt erst Erforschung der Machbarkeit, dann Umsetzung in die Praxis – leidtragend ist eine ganze Schülergeneration.
Aber es heißt auch, „the teacher matters“. Und das ist gut so. Denn die Lehrerinnen und Lehrer, die wir im Verband Deutscher Schulgeographen vertreten, wenden sich meistens ziemlich unbeeindruckt von den eifernden Reformdiskussionen ihren Schülern zu. Sie versuchen, ihnen mit den Inhalten, die ihr Fach und die Lehrpläne von ihnen fordern, möglichst methodisch geschickt zu helfen, zu selbstbewussten, verantwortungsvollen Bürgern heranzuwachsen. Dass Methodentraining neu ist, bleibt ein Märchen, auch wenn das Wort modern klingt. Lehrerausbildung ist von Anfang an fachliche und methodische Ausbildung, denn ohne Anwendung einer Methode kommt kein Jota in den Kopf des Schülers.
Ist das Image der Geographie in der Schule positiv, so haftet dem Geographielehrer vom Standpunkt außerhalb der Schule doch ein eigentümlich biederer, ein wenig verstaubter Eindruck an. Über den Leiter der ZDF-Redaktion Joachim Bublath wurde in einem angesehenen Nachrichtenmagazin geäußert, er „versprühe den Charme eines Erdkundelehrers kurz vor Schulschluss“ .[12] Und auch bei der Meldung über die Auffrischung von Karosserie und Ausstattung eines gängigen deutschen Personenwagens wird in der gleichen Zeitschrift der Erdkundelehrer bemüht: Das einst biedere Zweckmobil habe sich in einen grimmigen Blech-Zorro verwandelt – nachdem sich bisher seine Kernklientel aus „rauschebärtigen Erdkundelehrern“ rekrutiert habe. [13]
Was die Geographie ist und was sie will, scheint in der Öffentlichkeit weitgehend unklar zu sein. Die Verwechslung von Geologie und Geographie ist gängig. Die „Frankfurter Rundschau“ hat die Lebensgeschichten berühmter Forscher in handlichen Bänden zusammengestellt. Im Klappentext zum Band „Geologie“ heißt es: „Geologie, oder simpel: Erdkunde – das ist die spannende Wissenschaft, die sich mit dem Aufbau der Erde (…) beschäftigt.“ Das, was Geographie ist, heißt meistens allerdings selbst bei Geographen nicht mehr Geographie und kann damit nicht mehr als zur Geographie zugehörig erkannt werden.
Im Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen der Bundesregierung wird beispielsweise festgehalten: „Nicht wenige deuten heute die Geographie als Modell einer „alternativen Wissenschaft (…). Dieses Modell, das die Geographie als neue, integrative Wissenschaft versteht, ist im Kern durch folgende Merkmale bestimmt: ganzheitliche statt analytische und reduktionistische Betrachtungsweise, Verbindung von Natur- und Sozialwissenschaft, normativer Anspruch sowie Überwindung der Spaltung von Theorie und Praxis.“[14]
Ich nehme an, Sie sind einverstanden mit dem Text aus dem Umweltgutachten. Nur: Ich habe an den zwei Stellen, an denen von Geographie die Rede ist, das Original verändert. Dort im Original steht nämlich jeweils „Ökologie“. Denn die Merkmale, die hier aufgeführt werden, treffen nicht nur auf ein neues Fach „Ökologie“, sondern insbesondere auf die moderne Geographie zu: Ganzheitliche statt analytische und reduktionistische Betrachtungsweise, Verbindung von Natur- und Sozialwissenschaft, normativer Anspruch sowie Überwindung der Spaltung von Theorie und Praxis. Dass das Fach Geographie existiert, das – genau wie für die Ökologie definiert (S. 15) – „das Basiswissen für einen sachgerechten Umgang mit den natürlichen Existenzgrundlagen des Menschen“ bereitstellt (S. 15), die Verknüpfung mit den Rechts,- Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gewährleistet und sich mit den ethischen Bedingungen umweltgerechten Handelns auseinandersetzt (wie auch für die Ökologie gefordert), dazu noch den konkreten, originären Raumbezug durch Exkursionen und Feldarbeit einbezieht, wurde nicht erwähnt.
Es bleibt unerfindlich, warum nicht schon damals die Geographie mindestens diese Steilvorlage des Umweltrates aufgriff und sich massiv zu Wort meldete. Es ist meines Wissens nach bis heute noch nicht geschehen.
„Warum hat es die deutsche Geographie nicht vermocht, wesentliche Felder der in den letzten Jahren ständig an Bedeutung gewinnenden globalen Umweltforschung, speziell der Mensch-Umwelt-Beziehungen, zu besetzen und fortzuentwicken?“ fragt Eckart Ehlers[15]. Gilbert Grosvenor stellt in ähnlicher Weise, immerhin bedauernd, fest, die Geographie habe es „leider“ bisher vernachlässigt, „ihre Konzepte in das Management des Planeten Erde zu integrieren.“[16]
Sollte sich hier jemandem der Festversammlung der Eindruck aufdrängen, ich würde klagen, vielleicht sogar anklagen, und das auch noch in der Festveranstaltung zur Feier des immerhin 100-jährigen Bestehens unseres Verbandes, so hat er mich wohl verstanden. Selbst das hundertjährige Ereignis eines Internationalen Geographiekongresses in Deutschland mit über 2300 Teilnehmern aus mehr als 80 Staaten der Welt hat zwar den Präsidenten des Europäischen Parlaments als Schirmherren gewinnen und eine Königliche Hoheit aus Thailand sowie eine Landesministerin offiziell begrüßen können, ansonsten wurde ihm aber von der deutschen Bildungs-, Wissenschafts- und Außenpolitik keine Aufmerksamkeit zuteil. Zu klagen ist deswegen möglicherweise immer noch nicht gerechtfertigt, aber immerhin vielleicht verständlich. Entsprechend der fehlenden deutschen Repräsentanz aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft war die Resonanz in den deutschen Medien marginal bis nicht vorhanden – eine große Chance für die Geographie, mindestens jetzt nationale Aufmerksamkeit zu erzielen, musste im August 2012 in Köln ungenutzt bleiben.
Ein Notabene an dieser Stelle möge mir erlaubt sein: In dieser Woche fand der 49. Deutsche Historikertag in Mainz statt. In einer überregionalen Tageszeitung[17] fand sich eine Vorankündigung der dpa, in der es in wenigen Zeilen unter anderem hieß: „400 Referenten werden bei 130 Veranstaltungen rund um das Motto ‚Ressourcen-Konflikte‘ erwartet. Es handelt sich um einen der größten geisteswissenschaftlichen Kongresse in Europa. 3000 Besucher haben sich angemeldet. Eröffnet wird der Historikertag mit einem Vortrag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle.“ Und als Notabene zum Notabene: Teilnehmerbeitrag für die Gesamtveranstaltung für Mitglieder des Historikerverbandes 50 Euro. Tagesbeitrag 25 Euro.
Als Vertreterin des Präsidenten des Europäischen Parlaments sprach in der Eröffnungsveranstaltung zum Internationalen Geographiekongress in Köln Frau Professor Anne Glover. Sie sprach voller Begeisterung darüber, was sie im Programm der Tagung über die vielfältigen Beiträge der Geographie zu den aktuellen Problemen der Menschheit in dieser Einen Welt und ihren Lösungsanregungen lesen konnte. Und sie rief den Geographinnen und Geographen sinngemäß zu: „Bleiben Sie mit den Ergebnissen Ihrer Forschungen nicht in den angesehenen, insgesamt aber doch wenig verbreiteten wissenschaftlichen Zeitschriften stecken, formulieren Sie nicht nur für Ihre Fachkollegen – gehen Sie in die Öffentlichkeit, rütteln Sie die Verantwortlichen auf, zeigen Sie bei Behörden, in der Politik und in der Öffentlichkeit, wozu Ihr schönes Fach fähig ist und welche großartigen Beiträge es zur Bewältigung von Klimaveränderungen und Ressourcenknappheiten und Bodenverknappung und Bevölkerungswachstum und Migration oder anderem leisten kann.“
Forschungsergebnisse, die im Elfenbeinturm der Wissenschaft bleiben, nützen den Menschen nicht. „Die Wissenschaft sollte der gesamten Menschheit dienen und dazu beitragen, ein vertieftes Verständnis für Natur und Gesellschaft, eine bessere Lebensqualität sowie eine nachhaltige und gesunde Umwelt für heutige und künftige Generationen zu schaffen“, heißt es in der „Erklärung über die Wissenschaft und die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse“, verabschiedet in Budapest von der Weltwissenschaftskonferenz unter der Schirmherrschaft der UNESCO und anderer Ende Juni 1999[18]. Daher müssen der Öffentlichkeit, der Politik und der Wirtschaft Forschungsergebnisse plakativ und offensiv als Möglichkeiten angeboten werden, im Sinne der „Erklärung über die Wissenschaft“ der Menschheit zu dienen. Das bedeutet für Wissenschaftler notwendig, mindestens zweigleisig zu verfahren, sowohl in den speziellen wissenschaftlichen Medien für die wissenschaftliche Reputation zu publizieren als auch die öffentlichen Massenmedien im Sinne der Öffnung der Wissenschaft zum Wohle der Menschheit zu interessieren und zu begeistern.
In der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 20. September, also in der Ausgabe der vorigen Woche, fragt der Präsident der ehrwürdigen Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“, Professor Dr. Jörg Hacker, in der Rubrik „Studenten erklären die Welt“[19]: „Hast du Ideen, wie sich Professorinnen und Professoren mit ihrem Expertenwissen mehr Gehör in der Politik verschaffen können?“ Es antwortet eine 22-jährige VWL-Studentin aus Tübingen: „(…) Ich frage mich (…) generell, ob Professoren überhaupt realitätsnahe Ratschläge geben können. Schließlich hängt ihre Karriere heute vor allem von der Zahl möglichst komplizierter Veröffentlichungen in Fachzeitschriften mit entsprechend begrenzter Leserschaft ab. Vielleicht wäre ein Vermittler (…) eine Lösung, ein Botschafter zwischen abstrakter Wissenschaftswelt und schnelllebigem Politikalltag. Kein einfacher Pressesprecher also, sondern vielmehr ein neutraler Ombudsmann als Übersetzer und Vermittler. (…) Mithilfe solcher Ansprechpartner würde Expertenwissen eher da landen, wo es hingehört: in der Realität.“ In den USA heißt der Aufruf an die Wissenschaftler, auch für die Öffentlichkeit zu schreiben, schlicht und einprägsam: „Don’t be such a scientist!“[20] Unserer Geographie steht hier noch ein weites Feld offen.
Ich befürchte leider, wir könnten ein spektakuläres Medieninteresse und Proteste erst entfachen, wenn wir als Verband das forderten, was diametral unserer Überzeugung, unserem Streben und unserer Satzung widerspricht, nämlich die Schulgeographie abzuschaffen. Aber dieses Experiment sollten wir uns denn doch ersparen, auch wenn es in der Journalistenwelt heißt: „Only bad news is good news.“
Der beamtete Fachlehrer ist dem Willen und den Vorstellungen seines Dienstherrn unterworfen und hat seinen Unterricht zu halten – letztlich nicht immer überprüfbar und meist hinter den verschlossenen Türen seines Klassenzimmers. Er ist im engen Dunstkreise seiner Schule auf Treu und Glauben in die Eigenverantwortung dazu entlassen, die Intentionen und Inhalte des Lehrplanes umzusetzen.
Wenn der beamtete Fachlehrer es weit gebracht hat, ist er Studiendirektor geworden – in der Beamtenhierarchie zwar ein „höherer“, aber in der ministerialen Kultusbürokratie immer noch ein kleiner Beamter. Denn im Kultusministerium gilt auf der Grundlage der parlamentarischen Vorgaben das Wort des Ministers, der es an den Ministerialdirigenten und den Ministerialrat weitergibt, bis schließlich der Herr Referent der Lehrerschaft mitteilt, wie Stundentafeln und Lehrpläne auszusehen haben. Zur Wahrung der Transparenz und des bürger- sprich: lehrerfreundlichen Vorgehens werden geeignete Experten aus Schule, Seminar und Hochschule als Berater herangezogen. „Geeignet“ heißt hier, dass sie die politische Linie des Ministeriums vertreten. Schriftliche Stellungnahmen sind vorderhand erwünscht, ich habe aber noch nie erlebt, dass auch nur eine von ihnen bei der Erstellung neuer Lehr- bzw. Bildungspläne Resonanz fand, wenn sie nicht genau auf der erwünschten bildungspolitischen Linie lag. Auch hier gilt: Bei geeigneter Konstellation bestätigt die Ausnahme die Regel.
Der Fachlehrer ist damit eingespannt in die bildungspolitischen Vorgaben. Er ist grundsätzlich nicht frei in seinem Unterrichtsverhalten und den Unterrichtsinhalten, sondern weisungsgebunden. Das bedeutet nicht, dass man als Lehrer nicht hier und da aus den vorgegebenen Rahmenbedingungen ausbrechen könnte – das sind dann aber eng auf die eigene Schule und den eigenen Unterricht begrenzte „Unterrichtsversuche“, die vom Fachreferenten in der Bezirks- oder Landeshauptstadt durchaus wohlwollend beachtet und auf Fortbildungsveranstaltungen als Beispiel für die Initiative und die Fortschrittlichkeit des Fachkollegen vorgestellt werden, zugleich als exemplarischer Beleg dafür, wie liberal und ideologie- oder dogmenfrei das Ministerium im Grunde genommen ist.
Die Schulgeographie ist aufgrund der föderalen Struktur unseres Staates auf Bundesebene auch insgesamt nicht mächtig genug, um bildungspolitischen Einfluss zu gewinnen. Die Geographielehrerschaft und der VDSG auf Länderebene sind als politisch wenig anspruchsvolle Größenordnung auch zu vernachlässigen.
Deshalb liegt der Schlüssel dazu, aber auch die Verantwortung dafür, in Gesellschaft und Politik, damit in der Öffentlichkeit als maßgebliche Stimme gehört zu werden, bei den Hochschulgeographen und den Geographen in den vielfältigsten Berufen, den selbständigen Planern, Beratern oder geowissenschaftlichen Dienstleistern, den Angestellten in der Wirtschaft und den – meistens höheren – Beamten außerhalb der Schule, kurz: Den „angewandten“ Geographen.
Carl Troll hat in der Einleitung seiner Schrift „Die Entwicklungsländer in ihrer kultur- und sozialgeographischen Differenzierung“ schon im Jahre 1968 [21] auf das „Besondere“ hingewiesen, das „die heutige Geographie zu dem Problemkreis [seines Themas] beizutragen vermag, nämlich die vergleichende Beurteilung und Zusammenschau der naturräumlichen, kultürlichen, wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung der betreffenden Gebiete“. Hier öffnet sich das weite Feld, auf dem Geographen tätig sein können und auch tätig sind. Aber sie müssen auch öffentlich auf den Beitrag der Geographie zum infrastrukturellen Ausbau eines Landes hinweisen. Das geschieht viel zu wenig und wenn, dann viel zu leise.
Auf meine Anfrage teilte mir das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Februar 2012 mit, dass in diesem Ministerium 20 Diplom-Geographen beschäftigt sind, davon drei im gehobenen, 16 im höheren Dienst und einer als Referatsleiter. „Im gehobenen und im höheren Dienst ist außerdem jeweils eine Person als Entwicklungsberater/in tätig. Vier weitere Personen sind als Referenten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit beschäftigt.“ Das ist im Rahmen eines großen Ministeriums zwar nur eine kleine Gruppe von 26 Geographen/innen. Entsprechende Anfragen an andere Ministerien, etwa dem für Verkehr oder Landwirtschaft oder Städtebau, ergeben möglicherweise ein ähnliches Ergebnis. Das wären dann aber an entscheidenden Stellen Kerne, von denen aus geographische Erkenntnisse Einfluss auf verantwortliche Gestalter gewinnen könnten.
Eigentlich sieht es im Bereich der Hochschulgeographie noch weit besser als bei den „Angewandten“ aus, sich als Angehöriger der Geographical Community zu outen. Die Hochschullehrer sind in ihrer Meinungsbildung und Meinungsäußerung auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse frei. Zumindest jeder Geschäftsführende Direktor eines Geographischen Instituts hätte die Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit mit den Forschungsergebnissen aus seinem Institut zu wenden. Die regelmäßige Einladung zu einem Pressefrühstück wenigstens an die örtliche und in den Großstädten auch an die überörtliche Presse wäre eine wenig spektakuläre, aber vielleicht auf Dauer wirkungsvolle Publicity-Maßnahme in unser aller Interesse.
Die demokratisch legitimierte Vertretung der organisierten Geographie in Deutschland, die DGfG,
könnte wichtige Verbündete in den Naturschutzverbänden Deutschlands suchen und finden,
könnte auch intensive informelle Kontakte zu anderen Fachverbänden zum Erfahrungsaustausch aufnehmen.
Die Besprechungen mit Politikern, Wirtschaftern, potentiellen Geldgebern könnten jeweils mit einem „cetero censeo“ auf die Gesamtgeographie hinweisen.
Bei bevorstehenden internationalen Großveranstaltungen, an denen deutsche Vertreter teilnehmen, etwa Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften, könnte die DGfG regionalgeographische Informationen für die Teilnehmer anbieten oder sogar Landeskenner als geographische Begleiter anbieten;
die DGfG könnte im nationalen Rahmen Stellungnahmen zu aktuellen geographischen Geschehnissen oder Entwicklungen abgeben und
sie könnte vor jeder Präsidiumssitzung eine Zusammenkunft mit der lokalen Presse organisieren. Einmal geknüpfte Kontakte zu Journalisten dürfen nicht wieder versanden.
Alle Geographen und Geographinnen sind dazu aufgerufen, ihre Anregungen, Ratschläge, Bedenken, Ideen in die DGfG einzubringen. Wer sich da heraushält, darf sich nicht darüber beklagen, dass sie zurückbleiben, wenn die Karawane weiter zieht.
Das alles bedarf keines bedeutenden personalen oder finanziellen, wohl aber des ehrenamtlichen Aufwandes und des Willens, „Flagge zu zeigen“, sich einzumischen und die Verantwortung für das Gesamtgebäude Geographie mitzutragen. Ohne Empathie, Emotion und Herzblut geht es aber auch nicht, weil es um einen Verantwortungsbereich geht, der über das tägliche Pflichtgeschäft hinausgeht und nicht mit der nüchternen, kühlen Distanz der eigentlichen Profession gemeistert werden kann. Hier spielt das Muss keine Rolle, sondern das Wollen ist entscheidend.
Gerade wir Schulgeographen dürfen nicht nur mit dem ausgestreckten Finger der Hand auf andere zeigen – drei Finger weisen dann bekanntlich auf uns zurück. Wir müssen trotz der umfangreichen Belastungen in unserem eigentlichen Beruf durch den Unterricht, Vor- und Nachbereitung, Schüler- und Elterngespräche, Kommissionssitzungen, Fachsitzungen, Konferenzen, Erarbeitung von Schulprofil, Schulprogramm, Schulcurriculum, Mithilfe bei der Durchführung externer Evaluationen, Teilnahme an amtlichen Fortbildungen, fortwährendes Selbststudium der aktuellen pädagogischen und didaktischen Diskussion, Durchdringung der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge – wir müssen trotz alle dem an der Präsenz unseres Faches in der Schule mitwirken, wir müssen als Funktionäre des Verbandes auf Landesebene hellhörig sein gegenüber Veränderungen der bildungspolitischen Grundlagen und aktiv unsere Meinung und unsere berechtigte Forderung nach geographischer Bildung einbringen.
Das alles reicht wahrlich zu einem durchaus ausgefüllten Tagesablauf. Aber dann ist da möglicherweise noch eine Institution, die sich Familie nennt und eigene, durchaus prioritäre Begehrlichkeiten anmeldet.
Hier ist dann die Stelle, wo – wenn es erlaubt ist – auch ich Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und Ihren Familien meine Hochachtung darbiete und auch meinen Dank sage, dass Sie die ehrenamtliche Arbeit für unsere Geographie aufbringen. Ich schließe in meinen Dank alle ein, die Ihnen zuarbeiten und Ihnen die Arbeit erleichtern.
Dass nun nicht von heute auf morgen die Medienlandschaft die deutsche Öffentlichkeit mit Nachrichten aus der Geographie überschwemmen wird, liegt auf der Hand. Der Weg in die Öffentlichkeit muss behutsam und geduldig, auch gekonnt angegangen werden – deutsche Journalisten sind eigenständig und eigenwillig.
Es gibt einige Geographische Institute, die schon heute gute Öffentlichkeitsarbeit machen und sich trotzdem in der täglichen Nachrichtenflut nicht durchsetzen können. Geographie ist bisher kein Türöffner, der das Interesse der Medien mit Leichtigkeit gewinnt. Nachrichten in Zusammenhang mit Geographie klebt ungerechtfertigt eher ein Hauch von Langeweile an, Meldungen aus der Geographie geht meist der Ruf voraus, etwas Altbackenes, Behäbiges, Oberlehrerhaftes zu sein. Das kann sich nur ändern durch kontinuierliche, geduldige zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit.
Zugleich muss sich tatsächlich unter den Wissenschaftlern die Meinung durchsetzen, dass Beiträge in den populären Medien nicht minderwertig im Vergleich zur Publikation in einer wissenschaftlichen, „gerankten“ Zeitschrift und deshalb gar reputationsschädigend sind. Sie sind allerdings anders und richten sich an die Menschen, deren Zukunft die Wissenschaft sich zu bessern bemüht.
Letztlich spreche ich hier für ein gesellschaftspolitisches Mandat der DGfG, ohne das die Stimme der Geographie in Deutschland nicht wahrgenommen wird. Man mag einwenden, das sei die Aufgabe der politischen Parteien und deshalb ihnen auch zu überlassen. Aber die katholische Kirche äußert sich zum Klimawandel, die Post zum Mathematikunterricht, die Wirtschaft und die Bertelsmann-Stiftung ohnehin zu allem, was zu Schule und Bildung gehört. Da kann sich die Geographie wahrlich zu geographischen Themen äußern. Die öffentliche Meinung und der Fortgang der Gesellschaft leben von den vielfältigsten Meinungen ihrer Mitglieder. Sie müssen sich im vielstimmigen Konzert der Meinungen vernehmlich artikulieren. Die Geographie steht noch vor der Bewältigung dieser Herausforderung.
Die Geographie in der Schule wird trotz ihrer wichtigen Inhalte, ihrer unbestrittenen Methodenvielfalt und ihrer gleichermaßen unbestritten interdisziplinären Ausrichtung nicht als wichtiges Schul-Kernfach anerkannt, das die Schüler mit auf den Raum bezogenen natur- und sozialwissenschaftlichen Inhalten bekanntmacht und sie systemisch und komplex übt. Wenn wir alle und gemeinsam nicht energisch gegensteuern, wird das Fach weiterhin uns wichtige Inhalte an andere Schulfächer verlieren und schließlich als Unter- oder Mittelstufenfach mit dem Akzent auf „Topographie“ ein für einen Geographen in höchstem Maße unbefriedigendes Dasein fristen. Die Möglichkeit aufgrund der Rahmenbedingungen der KMK, in der Oberstufe des Gymnasiums einen Geographiekurs im Leistungsbereich zu belegen, kann einen weiteren möglichen Verlust in den unteren Schuljahren nicht kompensieren, zumal der Abschluss in der Abiturprüfung nicht einheitlich geregelt ist: Mündlich oder schriftlich oder beides oder in Kombination mit einem anderen Fach aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenbereich. Grundsätzlich ist nebenbei zu bemerken, dass die Qualität und die Anforderungen nicht nur der Abiturprüfung in unserem Fach einer objektiven Untersuchung unterzogen werden müssten.
Ohne massive Einmischung der Geographen in das Konzert der öffentlichen Meinungen wird auch die Bedeutung der Hochschulgeographie für die Gesellschaft weiterhin zu wenig anerkannt bleiben. Schulgeographie und Hochschulgeographie aber sind aufeinander angewiesen und bauen aufeinander auf. Die Hochschulgeographie wirkt durch die Lehrerausbildung auf die Schulen zurück, und nur hervorragend ausgebildete und in der Persönlichkeit starke Lehrer werden Schüler dazu anregen können, Geographen zu werden.
Schließlich mag es heute, 100 Jahre nach der Gründung des Verbandes Deutscher Schulgeographen, angemessen sein, einen Vorschlag zu wiederholen, der zwar nicht – wie die Forderung nach zweistündigem Geographieunterricht – 100 Jahre, aber inzwischen doch 15 Jahre alt und auch nicht realisiert worden ist. Man mag einwenden, dass nach einer so kurzen Zeit Ungeduld fehl am Platze sei.
Nach Zeiten strenger Regelungen für Schulen, was Lehrpläne, Bildungspläne oder Stundentafeln betrifft, befinden wir uns in einer Phase der Individualisierung der Schulen. Die Schulen entwickeln jeweils ihre eigenen Leitbilder, in denen bei aller Gleichheit doch ein jeweils eigener Akzent in ihrer Erziehungs- und Bildungsarbeit sichtbar wird. Ein vom Ministerium vorgegebenes „Kerncurriculum“ wird von der Kollegenschaft einer Schule um ein „Schulcurriculum“ ergänzt, das es der Schule erlaubt, eigene inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Einige Unterrichtstunden können von den Schulen nach eigenen Vorstellungen den Unterricht in Fächern oder in einem fächerverbindenden Bereich ergänzen.
Das allgemeinbildende Gymnasium ist der Grundtyp der Schulart „Gymnasium“. Sie ist weiter aufgeteilt in weitere Typen mit bestimmten Profilen, beispielsweise das sprachliche, naturwissenschaftliche, musisch/künstlerische , technische, sozialpädagogische oder Sportgymnasium. Manche Gymnasialtypen gibt es nur als Oberstufe – etwa das Technische Gymnasium als Spezialtyp des Beruflichen Gymnasiums.
Gymnasien erhalten ihr Profil durch zusätzliche Stunden in ihrem Profilbereich, ohne dass das Ziel der Allgemeinbildung außer Acht gelassen wird. Es gibt keinen Gymnasiumstyp mit geo- oder gesellschaftswissenschaftlichem Profil. Es gibt „Schwerpunktschulen Geographie“ oder gymnasiale Oberstufen mit Geographie-Profil.
Aber es gibt keinen Gymnasiumstyp mit geo- oder gesellschaftswissenschaftlichem Profil von Anfang an. Es gibt nach meiner Kenntnis schon gar keine private Schule mit geowissenschaftlichem oder gesellschaftswissenschaftlichem Profil. Auch dazu könnte die Anregung von der DGfG an geeignete Schulträger ausgehen.
In der „Würzburger Erklärung“ haben schon im Jahre 1995 die Fachverbände der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer Geschichte, Politik und Geographie folgenden Konsens erzielt:
„Nur durch die Gesamtschau der drei Fächer [Geographie, Geschichte und Politik/Gemeinschaftskunde] kommt die Sicht auf die menschliche Wirklichkeit zustande (…). Eine angemessene Sicht der komplexen Wirklichkeit gewinnen Schülerinnen und Schüler durch alle drei Fächer gemeinsam, denn Raum kann nicht ohne Zeit wahrgenommen werden, Polis nicht ohne Raum und Zeit; Zeit, Raum und Polis aber konstituieren Lebenswirklichkeiten. (…) Diese Fächer sind in besonderer Weise dazu bestimmt, die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler (…) in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu entwickeln. Und damit ist politische Bildung zentrale Aufgabe des Staates, der sich dieser durch entsprechende Ausstattung der Fächer zu stellen hat.“
Einerseits in Hinsicht auf die besondere Bedeutung der politischen Bildung im Sinne der „Würzburger Erklärung“, andererseits aber auch als Basis für die Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes in der Oberstufe des Gymnasiums sollten wir uns im Sinne einer verstärkten und breiteren geographischen Bildung auf allen Ebenen dafür einsetzen, ein „Gesellschaftswissenschaftliches Profil“ des Gymnasiums (G-Profil) neben die anderen, schon eingeführten zu stellen. Das G-Profil würde das unterrichtliche Gewicht auf geowissenschaftliche und gesellschaftliche Prozesse und Zustände sowie ihre räumlichen Auswirkungen im globalen, regionalen und lokalen Maßstab legen, ohne sprachliche, musische oder naturwissenschaftliche Bildung zu vernachlässigen. Im Gegenteil:
Es böten sich einerseits je nach vorhandenen Fächerkombinationen der Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise bilinguale Unterrichtsphasen an,
andererseits würde die Einbeziehung der Geographie Akzente naturwissenschaftlicher, vernetzender Bildung in den Mittelstufenklassen setzen, die heute so nicht vorhanden sind.
Die Integration der geographischen Feldarbeit in die unterrichtliche Arbeit und damit die Vereinigung von Theorie und Praxis würde ermöglicht.
Der innere Zusammenhang der drei Fächer erleichtert fachübergreifendes und fächerverbindendes Arbeiten, und
die jeweiligen fachimmanenten Methoden begünstigen die Projektarbeit, die Anfertigung von Referaten oder einer Facharbeit.
Die Einführung eines G-Profils würde weiter beitragen zu mehr Freiheit und Verantwortung der Schulen bei der Entwicklung ihres pädagogischen Profils. Das bedeutete einen erheblichen Beitrag zur qualitativen Weiterentwicklung der Schulen.
Das wäre eine Möglichkeit, die geographische Bildung in Deutschland zu vertiefen und zugleich dem Schulfach Geographie eine starke Gewichtung wenigstens in einem gymnasialen Typ zu geben.
Wir wollen in der Schule keine Geographen ausbilden und auch keinen Schüler unbedingt dazu bringen, Geographie zu seinem besonderen Lebensinhalt zu machen. Wir wollen aber, dass im Konzert der Begabungen und Befähigungen auch die entdeckt und gefördert werden, die dem Fach Geographie in besonderer Weise entsprechen: Nämlich die Dualität zwischen Theorie und Praxis, das fachübergreifende und fächerverbindende Arbeiten, das Interesse an der Welt, ihrer Genese und ihrer Entwicklung sowie dem Leben der Menschen in ihr. Das Fach Geographie führt die Menschen zu nachhaltigem Verhalten, globalisiertem Verständnis und interkulturellem Zusammenhalt. Das macht es wertvoll, das verleiht ihm seinen Anspruch, stark zu sein und gestärkt zu werden.
[1] Die Große NGBibliothek, Band 1, S. 15.
[2] GA 1911, S. 196.
[3] GeogrAnz 1911, S. 196.
[4] Köck, Helmuth: Zum Bild des Geographieunterrichts in der Öffentlichkeit. Eine empirische Untersuchung in den alten Bundesländern. Gotha 1997.
[5] Köck, a.a.O., S. 183.
[6] Köck, a.a.O., S. 182.
[7]Herrmann, Ulrich: Bildungsstandards“ – Erwartungen und Bedingungen, Grenzen und Chancen. In: Zs. für Pädagogik, Jg. 49, Heft 5/2003, S. 625-639, S. 633.
[8] Lutz Koch in PROFIL Mai 2012, aber auch an anderen Orten.
[9] Philip E. Tetlock, Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know? Princeton 2005.
[10] Germanistik und Deutschunterricht. Positionspapier der beiden Teilverbände des Deutschen Germanistenverbandes. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. 59. Jg., Heft 3, 2012, S. 281.
[11] Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise. Berlin, Bonn = Bildungsforschung Band 1, S. 30.
[12] In: DER SPIEGEL Nr. 41, 2005
[13] In: DER SPIEGEL Nr. 7, 2007, S. 194.
[14] Rat der Sachverständigen für Umweltfragen: Umweltgutachten 1994. Stuttgart 1994, S. 69.
[15] Ehlers, Eckart: Das Anthropozän. Die Erde im Zeitalter des Menschen. (Darmstadt 2008), S. 239.
[16] Die Große NGBibliothek, Band 1, S. 17.
[17] Frankfurter Rundschau vom 24. September 2012, S. 21.
[18] „Wissenschaft für das 21. Jahrhundert – Eine neue Verpflichtung“ http://www.unesco.de/wwk-erklaerung.html (10. September2012)
[19] Die Zeit 39, 20. September 2012, S. 71.
[20] Olson, Randy: Don’t be such a scientist. Talking Substance in an Age of Style. Washington, Covelo, London, 2009.
[21] Troll, Carl: Die Entwicklungsländer in ihrer kultur- und sozialgeographischen Differenzierung. Bonn 1968 (= Bonner Akademische Reden 23), S. 5.